Autistische Schüler:innen tauchen in den Schulstatistiken der KMK nicht auf – nicht, weil es sie nicht gäbe, sondern weil es keinen eigenen sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Autismus gibt. Es können somit keine Angaben darüber gemacht werden, wie viele autistische Schüler:innen es gibt und welche Schulform sie besuchen.
Die Übersicht über Autismus und Schule in den einzelnen Bundesländern verdeutlicht, dass diese den Handlungsbedarf mit Blick auf die Förderung und Unterstützung autistischer Schüler:innen erkannt haben, sie gehen nur ganz unterschiedlich damit um. Lediglich Berlin, Hamburg und Schleswig-Holstein haben einen eigenen sonderpädagogischen Schwerpunkt Autismus eingerichtet, Brandenburg und Bremen sprechen von sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Autistisches Verhalten bzw. im Bereich der Autismus-Spektrum-Störung, während Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt zumindest festhalten, dass ein sonderpädagogischer Förderbedarf auch bei autistischen Schüler:innen vorliegen kann.
Mit Ausnahme des Saarlandes sind in den Bundesländern Beratungsstellen eingerichtet und Fachberater:innen für das Autismus-Spektrum ausgebildet worden und/oder es werden Handreichungen zur Beschulung von autistischen Schüler:innen zur Verfügung gestellt. Dabei berufen sie sich vielfach auf die „Empfehlungen zu Erziehung und Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit autistischem Verhalten“ der Kultusministerkonferenz (KMK) aus dem Jahr 2000, die damit gut ein Vierteljahrhundert alt sind. Der Bundesverband autismus Deutschland e.V. hat bereits 2013 und 2014 die Überarbeitung der Empfehlungen aus 2000 dringend gefordert, dem die KMK bislang nicht nachgekommen ist.[1] Seit dem Erscheinen der Empfehlungen hat die Autismusforschung weitere Fortschritte gemacht und hat Autismus endlich Eingang in die Heil- und Sonderpädagogik gefunden.[2] Ein weiterer Schritt ist mit der Einrichtung von zwei Lehrstühlen zu Pädagogik bei Autismus gemacht, wenngleich sie der Pädagogik bei geistiger Behinderung (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) bzw. der Pädagogik bei Verhaltensstörungen (Ludwig-Maximilans-Universität München) angegliedert sind. Der nächste Schritt muss ein, dass eigenständige Lehrstühle zur Pädagogik bei Autismus entstehen. Bei einer angenommenen Prävalenz von vier bis fünf autistischen Kindern von 10.000 Kindern sind die zwei vorhandenen Lehrstühle zu wenig! Autismus muss ein fester Bestandteil im Curriculum aller zukünftigen Lehrer:innen werden, denn autistische Kinder besuchen jede Schulform.
Vor allem aber erheben immer mehr autistische Menschen selbst das Wort. Sie tragen maßgeblich dazu bei, Autismus besser zu verstehen und beeinflussen auch seinen Diskurs. Erfreulicherweise beschreiben auch autistische Kinder und Jugendliche mehr und mehr, wie sie Schule erleben.[3] Diese Beschreibungen müssen ernst genommen und analysiert werden, denn sie zeigen sehr deutlich auf, warum Schule für viele Autist:innen eine Horrorzeit ist, warum ihr Potenzial sich nicht im gegenwärtigen Schulsystem entfalten kann und vor allem, wie ein pädagogisches/didaktisches Setting für autistische Schüler:innen aussehen muss. Diese Erkenntnisse müssen in eine neue Empfehlung münden!
Da entsprechende empirische Daten fehlen, muss zur Beschreibung der schulischen Situation eine vom Bundesverband autismus e.V. erhobene Umfrage aus 2016 herangezogen werden, an der 621 Eltern autistischer Kinder teilgenommen haben.[4] Diese ist nicht repräsentativ, erlaubt aber trotzdem gute Einblicke. Zum damaligen Zeitpunkt besuchten etwa ein Drittel der autistischen Schüler:innen ein sonderpädagogisches Förderzentrum oder eine Förderschule, zwei Drittel wurden in der Regelschule beschult. Ein Drittel aller autistischen Schüler:innen, die einen sonderpädagogischen Förderschwerpunkt erhalten hatten, waren dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung zugeordnet. Ein weiteres Drittel hatte den Förderschwerpunkt Lernen oder Geistige Entwicklung. Das sind zwei bedenkliche Befunde.
Autistisches Verhalten, das als herausforderndes Verhalten beurteilt wird, geht hauptsächlich auf die fehlende Passung der Lernumgebung an die autistischen Bedürfnisse zurück. Der Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung ist damit falsch!
Ähnliches dürfte für die Förderschwerpunkte Lernen und Geistige Entwicklung gelten. Erst wenn die Lernumgebung den autistischen Bedürfnissen angepasst worden ist, kann wirklich beurteilt werden, ob ein Förderbedarf in den genannten Bereichen vorliegt. Das autistische Gehirn arbeitet anders als das nicht-autistische Gehirn, autistische Menschen denken und lernen anders. Dieser Aspekt wird bislang so gut wie gar nicht berücksichtigt. Die Standardinstrumente zur Messung der Intelligenz werden den anderen Denkstrukturen und kognitiven Strategien nicht gerecht, weshalb ihre Ergebnisse bei autistischen Menschen nicht valide sind.[5] Hier besteht noch ein großer Forschungsbedarf! Autistische Schüler:innen benötigen andere Lernzugänge und Lernwege, die ihnen gegenwärtig oftmals verwehrt werden.
Ein erschreckendes und zu politischem Handeln aufrufendes Ergebnis der Umfrage aus 2016 ist die hohe Zahl der Schulausschlüsse autistischer Schüler:innen. Knapp 21,3 Prozent der autistischen Schüler:innen waren bereits mindestens einmal vom Unterricht ausgeschlossen worden. Damit wurde ihnen das Recht auf Bildung verwehrt! Als häufigster Grund für einen Ausschluss vom Unterricht wurde das Ausfallen des Integrationshelfers oder der Schulbegleiterin und der damit einhergehenden Überforderung der Lehrkräfte genannt.
Die Ergebnisse dieser Umfrage sind seinerzeit an die KMK weitergeleitet worden.
Eine zweite nicht repräsentative Umfrage des Bundesverbandes autismus e.V. erfolgte 2019.[6] Ihr Datensatz – an der Umfrage haben 1343 Eltern teilgenommen – wurde von dem Arbeitsbereich „Pädagogik im Autismus-Spektrum“ der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg analysiert. Erschreckend ist auch hier, dass 24,5 Prozent der autistischen Schüler:in mindesten einmal vom Unterricht ausgeschlossen worden sind. Der Ausschluss reicht von Tagen über Wochen und Monate bis hin zu länger als ein Jahr. Neben dem Ausfall der Schulbegleitung werden der fehlende Nachteilsausgleich und Überforderung sowie psychischer Leidensdruck der autistischen Schüler:innen, die aus der für sie nicht passenden Lernumgebung resultieren, von den Eltern genannt. Da mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) 2009 die rechtlichen Vorgaben für eine Anpassung der Lernumgebung an die Bedürfnisse autistischer Lerner:innen vorliegen sowie zahlreiche Publikationen wichtige Impulse für die Umsetzung geben, ist an dieser Stelle das Verwehren von Bildungschancen ganz eindeutig als systemische Diskriminierung autistischer Schüler:innen zu benennen! Weitere erschreckende Zahlen der Umfrage: 72 Prozent der Eltern bewerten die Schulsituation ihrer autistischen Kinder negativ, überwiegend als ungenügend oder sogar als katastrophal. 42 Prozent der autistischen Schüler:innen mussten mindestens einmal die Schule wechseln, weil diese nicht passend für sie war, manche Schüler:innen mussten einen Schulwechsel bis zu vier- oder fünfmal erleben. Die Umfrage zeigt zudem, dass der Schulbesuch autistischer Schüler:innen sehr stark von einer Schulbegleitung abhängt. Der Schulbesuch gelingt dann, wenn das autistische Sein anerkannt wird, der Unterricht strukturiert ist, Präsenz- wie Homeschooling möglich sind, vor allem aber, wenn nach individuellen Lösungen gesucht wird.
Die Forderung nach einem eigenständigen sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Autismus scheint ambivalent. Auf der einen Seite wird die UN-BRK zur Umsetzung der Inklusion herangezogen, auf der anderen Seite wird mit dieser Petition doch genau das Gegenteil bezweckt, oder? Diese Spannung bleibt und muss ausgehalten werden. Die Frage der Inklusion und wie sie gelingen kann, muss offen diskutiert werden. Sie ist nicht damit beantwortet, dass wahrscheinlich knapp 80 Prozent der autistischen Schüler:innen eine Regelschule besuchen. Solche Zahlen werden gerne als Beleg für gelungene Inklusion interpretiert. Aber: Sie sagen nichts, gar nichts darüber aus, ob die autistischen Schüler:innen an den Regelschulen die für sie notwendige Förderung erhalten, ob sie ihren Potenzialen entsprechend gefordert werden! Gleiches gilt für die Förderschulen. Dazu fehlen die entsprechenden empirischen Studien. Ein weiteres Forschungsdesiderat.
Die Umfragen wie auch die Kommentare zu der Petition zeigen ganz im Gegenteil, dass die autistischen Schüler:innen weder an der Regel- noch an der Förderschule richtig gefördert und gefordert werden und dass es einzig vom Engagement einzelner Lehrkräfte abhängt, ob die Lernumgebung angepasst wird. Fehlende Unterstützung geht einher mit fehlendem Wissen über und somit fehlendem Verständnis von Autismus. Zu untersuchen ist also, wie die Lernumgebung für autistische Schüler:innen gestaltet werden muss, damit sie gleiche Chancen auf Bildung erhalten. Sodann ist zu untersuchen, wie eine solche Lernumgebung umgesetzt werden kann. Dabei dürfen die Grenzen des gegenwärtigen Schulsystems nicht die Grenzen unseres Denkens sein. Dafür brauchen wir einen eigenständigen sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Autismus, der die Antworten auf diese Fragen in schulisches Handeln übersetzt. Der eine autistische Pädagogik entwickelt und für ihre Umsetzung Sorge trägt. Der die Rahmenbedingungen schafft, dass autistische Schüler:innen ihr Potenzial überhaupt entfalten können. Der autistisches Sein anerkennt – denn davon ist Schule noch weit entfernt.
[1] Grummt, Marek; Lindmeier, Christian; Semmler, Romy (2021): Die Beschulungssituation autistischer Schüler:innen vor der Pandemie. In: autismus 92 (2021) S. 6.
[2] Schwarz, Katja (2020): Autismusbilder. Zur Geschichte der Autismusforschung. 1. Auflage. Weinheim Basel: Beltz, S. 26.
[3] Zu nennen sind z.B. Kohl, Leo M. (2021): Asperger. Mein Leben zwischen Intelligenz und Gefühlsleben. … aber ich habe gelernt damit umzugehen! 5. überarbeitete Auflage 2021. Gera: Verlag Daniel Funk; Linden, Mia (2021): Aus dem Leben einer Teenager Autistin. Hamburg: tredition; Schicha, Robin (2015): Außerirdische Reportagen vom Schulalltag. Ein junger Autist beschreibt seine Erdensicht. [o.O.:] Verlag Rad und Soziales; Schmitz, Lars (2022): Verborgene Intelligenz. Auf der Suche nach Verständnis. Ein Asperger-Autist kämpft sich vom Förderschüler zum Abiturienten. 1. Auflage. Gera: Verlag Daniel Funk; van de Hare, Claas Ludvig (2021): Problemkind. Notizbuch eines Schülers. Norderstedt: Books on Demand.
[4] Czwerwenka, S. (2017): Umfrage von autismus Deutschland e.V. zur schulischen Situation von Kindern und Jugendlichen mit Autismus. In: autismus 83 (2017) S. 42-48.
[5] Mottron, Laurent (2016): L’autisme, une autre intelligence. In: Bull. Acad. Natle Méd. no. 3 (2016), séance du 8 mars 2016, S. 423-434; Theunissen, Georg (2019): Autismus und herausforderndes Verhalten. Praxisleitfaden Positive Verhaltensunterstützung. 3., durchgesehene Auflage. Freiburg im Breisgau: Lambertus-Verlag, S. 68f.
[6] Grummt, Marek; Lindmeier, Christian; Semmler, Romy (2021): Die Beschulungssituation autistischer Schüler:innen vor der Pandemie. In: autismus 92 (2021) S. 6-17.